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... unterschiedlich unsere Zeitbegriffe sein können. Fragt man den einen: „ Gehen wir?“ und er antwortet: „In 5 Minuten“, heißt das, es ist an der Zeit, den Mantel anzuziehen. Kommt die gleiche Antwort von einem andern, weiß man auf Anhieb, dass man noch in Ruhe die Zeitung fertig lesen kann, bis es soweit ist. Je nachdem, wie gut wir einander kennen, stellen wir uns automatisch auf den anderen und sein persönliches Zeitgefühl ein.

Anders ist das bei unserem Umgang mit Kindern. Was versteht ein 4- oder 5-jähriges Kind, das noch nicht die lange Erfahrung eines Erwachsenen gesammelt hat, wenn wir ihm sagen: „In 5 Minuten“? Es ist schwer nachvollziehbar für uns, wie viel oder wenig ihm diese – für uns so selbstverständliche – Redewendung bedeuten mag.

In unserer Arbeit mit den Eltern kleiner Kinder hören wir immer wieder, wie schwer es ihnen fällt, mit ihren Kindern zu verlässlichen Abmachungen zu kommen, zum Beispiel über Zeitpläne. Auf das Verständnis von Zeit möchte ich hier genauer eingehen. Obwohl wir uns jede Mühe geben, ihnen zu erklären, was wir möchten, dass sie tun und vor allem wann sie es tun sollen, reagieren Kinder oft nicht so auf unsere Worte, wie wir es uns wünschen.

Ein Beispiel: Die Mutter oder der Vater hat dem 4 Jahre alten Thomas gerade erklärt, dass es längst Schlafenszeit ist und er in 5 Minuten zum bett-fertig machen kommen soll. Thomas schaut sie an, scheint genau zuzuhören und spielt dann aber seelenruhig weiter – ohne irgendein Zeichen zu geben, dass er verstanden, geschweige denn die Absicht hat, zu kommen.

Nur all zu oft begegnen wir Eltern, die an solchen Situationen verzweifeln. Sie fragen sich, was sie bloß falsch machen, dass ihr Kind so wenig von dem, was sie ihm sagen, zu hören scheint. Und wichtiger noch: was sie tun können, um die gereizten Reaktionen zu vermeiden, die leicht die Folge ihrer Hilflosigkeit in diesen Situationen sind.

Diese Probleme werden gerne der Methodik oder dem unfassbaren Bereich der Psychologie zugeordnet. Nicht weniger schwierig finde ich es, wenn Eltern das Gefühl bekommen, sie lassen sich ihren Kindern gegenüber etwas zuschulden kommen, wenn sie es wie z.B. im obigen Fall, nicht schaffen, sie ins Bett zu bringen, ohne dass es zu Differenzen kommt.

Ohne etwas, das zweifellos sehr komplex ist, simplifizieren zu wollen, möchte ich auf den Unterschied zwischen der Denkweise von Kindern und der von Erwachsenen hinweisen. Wir Erwachsene haben im Lauf eines jahrzehntelangen Initiationsprozesses die Sitten und Paradigmen unserer Kultur verinnerlicht. Doch mit diesen festen Denk- und Verhaltenssystemen kommt niemand auf die Welt, dafür aber mit der Fähigkeit, sich an welches Systeme auch immer anzupassen, in das man hinein geboren wurde.

Viele dürften sich noch lebhaft an ihre Auseinandersetzung mit all den Ansprüchen erinnern, die in der Pubertät und Schulzeit an sie gestellt wurden. Doch kaum einer von uns wird sich noch bewusst sein, welche Einflüsse während der ersten 5 oder 6 Jahre unseres Lebens auf uns gewirkt haben. Und so fällt es uns entsprechend schwer zu erkennen, womit unsere Kinder beschäftigt sind.

Ihr Bezug zur Zeit zum Beispiel ist grundlegend anders. Kein Säugling wird mit einer Armbanduhr am Handgelenk geboren. Sie teilen Zeit nicht auf in Tageszeiten oder Stunden und Minuten, sondern richten sich nach der unmittelbaren Erfahrung physischer Realität: Hunger, die Dunkelheit der Nacht und die Helligkeit des Tages, alternierende Phasen von Wachsein und Schlafen. Wachsen sie aus dem Säuglingsalter heraus und werden zu Kleinkindern, verbringen sie ihre Zeit abwechselnd mit Bewegung, stiller, konzentrierter Aktivität und Ruhephasen.

Sicherlich sind sie von Anfang an durch die Beziehung zu den Erwachsenen in ihrer Umgebung beeinflusst, weshalb wir nicht von einem völlig unverfälschten Zeitgefühl sprechen können. Doch die fast organische Beschaffenheit der Zeit, von welcher die Tätigkeit der Kinder bestimmt wird, lässt sich um einiges leichter nachvollziehen, als die größtenteils rationale Einteilung unserer Zeitpläne.

In dem Maße, in dem wir die vielen Unbekannten im Leben der Kinder wieder entdecken und wieder einen Sinn für das Noch-nie-da-Gewesene entwickeln, das ihnen noch so ziemlich überall begegnet, in dem Maße wird auch unsere Wertschätzung wachsen für ihre Bemühungen, uns zu verstehen und sich in unser System einzuleben. Aspekte unseres Lebens, die für uns längst unwichtig und selbstverständlich geworden sind, können dadurch neue Bedeutung gewinnen. Und manchmal belohnen uns die Kinder selbst mit faszinierenden und unvorhersehbaren Dialogen, die voller Überraschungen, Verständnis und Freude sind – wie zum Beispiel in der folgenden Geschichte, die mich kürzlich sehr erfreut hat:

Als ich neulich mit meiner 4-jährigen Tochter am frühen Abend auf dem Spielplatz war, sagte ich ihr, dass wir jetzt noch kurz bleiben und dann nach Hause gehen würden. Sie schaute mich an, sagte „Wir gehen in so viel!” und zeigte mir vier ausgestreckte Finger. „Gut?”

"OK”, antwortete ich und meinte, ihr etwas erklären zu können. „Das misst man in Minuten oder Stunden. Wenn wir noch vier Minuten bleiben, dann ist das sehr kurz, da kannst du gerade noch mal rutschen gehen. Und wenn wir noch vier Stunden bleiben, dann ist das viel zu lang, in vier Stunden bist du schon längst im Bett”

„Na gut.” sagte sie, „dann gehen wir in so viel” und streckte mir fünf Finger entgegen.

Peggy Zeitler, August 2008