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... unterwegs und gehe spazieren, diesmal am Isarhang. Dort bin ich gern, wenn auf dem Weg unten an der Isar so viele Menschen und Fahrradfahrer zu erwarten sind wie mittags auf dem Marienplatz. Auch genieße ich, wenn es etwas wärmer ist, den kühlen Schutz der vielen hohen Bäume am hinteren Weg.

Heute werden keine Schritte gezählt. Meine Gedanken sollen frei sein. Noch habe ich keine Idee für das diesjährige Editorial.

Es ist ein idealer Tag für einen Spaziergang. Der Regen der letzten Tage hat mittags aufgehört. Die Sonne ist wieder zu sehen und spielt Versteck mit den Wolken, die wie aus Zuckerwatte sind und die schweren Regenwolken ersetzt haben. Die Temperatur, 20°C, ist genau richtig, nicht zu kalt und nicht zu heiß. Die sanfte Brise erfrischt.

In Ermangelung einer Idee „mache“ ich mir Gedaken: Wie funktioniert das mit dem Denken und mit den Gedanken? – Doch das ist nicht der Weg zum Editorial, ermahne ich mich selbst. Vergiss das Editorial, hör auf mit dem Grübeln und genieße den glorreichen Tag, sage ich mir und bin folgsam.

Ein Stückchen weiter taucht in meinen Gedanken der diskrete E. B. White auf. Wo kommt der plötzlich her? Nein, sage ich mir, dies ist ein Editorial, das ich selber verfasse: keine Flucht in Zitate echter Schriftsteller wie beim halbjährlichen Arbeitsprogramm, wohl möglich noch mit Bild!

Ich gehe also weiter. Doch schon nach wenigen Schritten kommt mir ebenso unvermittelt der alles andere als diskrete Charles T. Munger in den Sinn. Ich muss lachen. Was ist denn hier los?

Auf einmal begreife ich: Mungers ‚eminent dead‘ sind die Eingebung, auf die ich gewartet habe; sie zeigen mir auch gleich einen Weg auf, wie ich E. B. White mit reinschmuggeln kann.

Charles T. Munger ist der weniger bekannte Aktionär und Vice Chairman der von dem u.s.-amerikanischen Investment-Guru Warren Buffett geführten Aktiengesellschaft Berkshire Hathaway. Munger gilt als Buffetts rechte Hand, übt sich aber bei Berkshire Hathaways jährlichen Aktionärstreffen regelmäßig in Zurückhaltung. Wenn Buffet alle Fragen beantwortet hat, begnügt er sich meist mit einem „Ich habe dem nichts weiter hinzuzufügen.“

Gleichwohl gibt es von seiner Hand ein kiloschweres, 548 Seiten langes Buch mit dem Titel „Poor Charlie's Almanack - The Wit and Wisdom of Charles T. Munger“, eine Anspielung auf Benjamin Franklins „Poor Richard's Almanack“*.

Auf Seite 23 stellt Munger seine ‚eminent dead‘ vor: „I am a biography freak myself. And I think when you're trying to teach the great concepts that work, it helps to tie them into the lives and personalities of the people who developed them. I think you learn economics better if you make Adam Smith your friend. That sounds funny, making friends among the ‚eminent dead‘, but if you go through life making friends with the eminent dead who had the right ideas I think it will work better for you in life and work better in education. It's way better than just giving the basic concepts.”

(„Ich bin selbst ein Biografie-Versessener. Und ich glaube, dass es hilfreich ist, wenn man versucht, die bedeutenden Ideen, die am Wirken sind, zu unterrichten, diese mit dem Leben und der Persönlichkeit derjenigen Menschen zu verknüpfen, die sie entwickelt haben. Ich glaube, dass Sie Wirtschaftswissenschaften besser lernen, wenn Sie sich mit Adam Smith anfreunden. Das klingt vielleicht seltsam, sich mit ‚eminenten Toten‘ anzufreunden; doch wenn Sie durchs Leben gehen und tatsächlich Freundschaft mit den ‚eminenten Toten‘ schließen, die die richtigen Ideen gehabt haben, wird es Ihnen leichter fallen im Leben wie auch in der Bildung. Es ist viel besser, als nur Grundkonzepte zu bieten.“)

Über die Bedeutung von Mungers Worte könnten wir lange diskutieren. Das ist aber nicht meine Absicht.

Worum es mir geht, ist Folgendes: Immer wieder ist es vorgekommen, dass mich ein Autor oder eine Autorin so gefesselt hat, dass ich ein Buch nach dem anderen von ihnen lesen musste, bis ich kein weiteres mehr finden konnte. Und diese Menschen sind in der Tat Freunde geworden, mit denen ich zusammenlebe. Charles Munger hat das erkannt und er hat ihnen einen würdigen Namen gegeben. Diese ‚eminenten Toten‘, mit denen wir uns angefreundet und die wir zu unseren Mitbewohnern gemacht haben, sind auf fast jeder waagerechten Fläche in jedem Zimmer der Wohnung zu finden. Es wäre ein einsames Leben ohne sie.

Und jetzt kommen wir zurück zum Anfang: Charles Munger kann ich nicht zu meinen eminenten toten Freunden zählen. Er ist eher ein recht neuer eminenter Freund, der noch lebt. E. B. White dagegen ist ein alter Freund unter meinen ‚eminenten Toten‘ und ich möchte ihn hier gerne ein wenig vorstellen. Er schreibt: „For me, always looking for an excuse to put off work, a farm is the perfect answer, good for twenty-four hours of the day. I find it extremely difficult to combine manual labor with intellectual, so I compromise and just do the manual. [...]

One morning a few months ago, during a particularly busy time, when I awoke I didn't dare get dressed: I knew that my only hope of getting an overdue piece written was to stay in bed - which is where I did stay. I told my wife it was a slight sore throat, but it was a simple case of voluntary confinement. It was the first time I had ever taken to bed in the full blush of health simply because I didn't dare face the economic consequences of putting my pants on.“ („The Pratical Farmer, August 1940“ in One Man's Meat)

(„Für mich, der ich immer einen Anlass suche, der Arbeit aus dem Weg zu gehen, ist eine Farm die perfekte Antwort, vierundzwanzig Stunden am Tag. Ich finde es außerordentlich schwer, körperliche Arbeit mit geistiger Arbeit zu verbinden, also gehe ich einen Kompromiss ein und beschränke mich auf das Körperliche.) [...]

Eines Morgens vor ein paar Monaten, während einer besonders arbeitsreichen Zeit, traute ich mich morgens nach dem Aufwachen nicht, mich anzuziehen. Ich wusste, dass meine einzige Chance, einen überfälligen Beitrag geschrieben zu bekommen, darin bestand, im Bett zu bleiben – wo ich dann auch blieb. Ich sagte meiner Frau, ich hätte einen leicht entzündeten Hals; doch es war ein klarer Fall von Selbst-Einweisung. Das war das erste Mal, dass ich bei blühender Gesundheit das Bett gehütet habe, weil ich mich schlechthin nicht traute, meine Hosen anzuziehen, und die daraus entstehende finanziellen Konsequenzen zu tragen.")

Ich schließe mich diesem Kompromiss an und, statt im Bett zu bleiben, gehe ich spazieren.

*„From 1733 to 1758, Ben Franklin dispensed useful and timeless advice through Poor Richard's Almanack. Among the virtues extolled were thrift, duty, hard work, and simplicity. Subsequently, two centuries went by during which Ben's thoughts on these subjects were regarded as the last word. Then Charlie Munger stepped forth.“ – Warren Buffett, from the Foreword to Poor Charlie's Almanack.

Peggy Zeitler, August 2016