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Vortrag von Anna Czimmek in Budapest am 19.April 2007:
Emmi Pikler - eine pädagogische Kinderärztin –
Aspekte ihrer medizinischen Arbeit damals und heute

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Auszug aus der Dissertation von Anna Czimmek:
Hengstenberg-Kurse

Emmi Pikler lernt Elfriede Hengstenberg 1935 kennen, nachdem sie durch ihre Schwägerin auf deren Arbeit aufmerksam geworden ist. Die schwer lungenkranke Schwägerin hält sich längere Zeit in Berlin auf und nimmt an Kursen von Elfriede Hengstenbergs Lehrerin Elsa Gindler teil. Als sie zurückkehrt, fallen Emmi Pikler Veränderungen an ihr auf. Emmi Pikler erkennt, dass ihre Schwägerin bei Elsa Gindler mit etwas in Berührung gekommen sein muss, das ihren eigenen Vorstellungen und Anliegen eng verwandt ist. Sie lädt Elsa Gindler nach Budapest ein. Elsa Gindler kann nicht kommen, schickt jedoch ihre Schülerin Elfriede Hengstenberg, die in den folgenden drei Sommern Kurse in Budapest abhält.

Der Arbeit Emmi Piklers mit gesunden Säuglingen, Hengstenbergs Beschäftigung mit größeren, zum Teil schwierigen und gestörten Kindern und dem Wirken Gindlers und des Musikpädagogen Heinrich Jacoby - Pionier in der Begabungs- und Verhaltensforschung - mit Erwachsenen liegt das gleiche Prinzip zugrunde: Sie alle gehen von inneren Gesetzmäßigkeiten aus, die bestrebt sind, sich zu entfalten, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu gewährt.

Aufgrund genauer Beobachtung der Fähigkeiten und Bedürfnisse kleiner Kinder richtet Emmi Pikler diesen in ihrer Arbeit einen sorgfältig vorbereiteten, geeigneten Rahmen hierfür ein. Elfriede Hengstenberg gibt "mit Phantasie und Einfühlungsvermögen (...) Kindern Aufgaben und Gegenstände, an denen sie sich zuverlässig in Ruhe und Bewegung erproben (können). Zuverlässig deshalb, weil Dinge unmittelbar Naturgesetzen wie der Anziehungskraft der Erde gehorchen. Sie beantworten das mehr oder weniger sinnvolle Vorgehen des Kindes stets auf die gleiche Art und Weise. So tragen sie eher als Worte zur Veränderung eines Verhaltens bei, mit dem das Kind sonst seiner eigenen Entfaltung im Wege stehen würde.

(Wie Emmi Pikler hat Hengstenberg) in dem Bedürfnis nach Selbständigkeit ein wesentliches Merkmal kindlicher Entwicklung erkannt. (Das Kleinkind) kann (...) bei der selbständigen Suche nach dem Gleichgewicht, in der Auseinandersetzung mit der Anziehungskraft der Erde (...) auch sein inneres Gleichgewicht (...) finden. Bei einer gestörten Entwicklung, die in unterschiedlichen Fehlgewohnheiten und Haltungsschäden sichtbar wird, können sich Kinder und Jugendliche (...) vor allem an selbständig zu lösenden Gleichgewichtsaufgaben wieder neu orientieren." (Strub im Vorwort zu Hengstenberg 1991)

Gindler und Jacoby bieten ihrem erwachsenen Schüler Erfahrungsmöglichkeiten, die ihn seine biologische Ausrüstung und deren Entfaltungspotential erleben lassen. "Anstatt den Körper nach ästhetischen, formalen, optisch bestimmten Vorbildern und 'Idealen', mit durch Kommandos oder durch Rhythmen 'geordneten' Bewegungsübungen 'verbessern' zu wollen, stand hier im Mittelpunkt aller pädagogischen Bemühungen das Sicherarbeiten einer wachen Beziehung zu den ordnenden und regenerierenden Prozessen des eigenen Körpers aufgrund bewußten Zustandsempfindens." (Jacoby, Jenseits von 'Begabt' und 'Unbegabt', 5.überarb. Aufl. 1995, S. 19 )

Elfriede Hengstenberg beschreibt in einem Brief an ihre "fleißigen Budapester", was die Wahrnehmung des eigenen Funktionierens und Reagierens auslöst: "Der Sommerkurs vom letzten und von diesem Jahr konnte Ihnen ja in vielen Versuchen immer wieder beweisen, wie es in jeder Lebenslage möglich ist, lebendiger und dadurch produktiver an die Lösung unserer verschiedensten Probleme heranzugehen - allein durch die Möglichkeit, wacher, forschender und aufnahmebereiter dafür zu werden, was die augenblickliche Situation von uns fordert." (Hengstenberg in dem Brief: An meine fleißigen Budapester, 1936)

Kleine Experimente machen deutlich, wie der Organismus auf sich ständig verändernde Verhältnisse neu reagiert, wenn die gewohnten Muster unterbrochen werden und "Beziehung" zugelassen wird: "Erinnern Sie sich noch der Situation, als wir uns eine Abwärtsbewegung des Rumpfes erst einmal zu einem wirklichen Studium werden ließen? Als Sie die Hängeversuche von den Hockern herunter unternahmen und sich nur das eine zum Ziel setzten: abzuwarten, was mit Ihnen geschieht, wenn Sie das Hängen ohne willkürliche Bewegungsabsicht dem Organismus allein überlassen?

Wie eindeutig konnten Sie an jenem Tag erleben, daß es dort, wo es uns wirklich gelingt, den Wünschen des Organismus zu gehorchen, zu völlig unerwarteten Entdeckungen kommt und zu vollständig neuen, bisher ungeahnten Erlebnissen! - Denn was geschah damals alles? (...) Jedem etwas anderes - aber allen etwas sehr Zentrales und Entscheidendes: Sie konnten spüren, wie unter ganz bestimmten Voraussetzungen Leben eintreten kann. Es kommt von selbst und will von selbst geschehen, ohne Zwang, ohne Forderung - ein befreiendes Aufatmen. In unserem sogenannten 'Leben' tun wir aber offensichtlich alles, um die Auswirkung unserer Energien und Regenerationsmöglichkeiten zu verhindern!" (Hengstenberg in dem Brief: An meine fleißigen Budapester, 1936)

In einem späteren Aufsatz heißt es: "Was mir nach immer häufigerem Studieren nun immer stärker auffällt: die Gemütlichkeit, mit der der Organismus vorgeht und eigentlich unaufhörlich 'aufräumen' möchte, wenn er Zeit und Gelegenheit dazu fände." (Hengstenberg in: Zeitler, 1991, S.92)

Auch Lili Edelstein nimmt an den Budapester Sommerkursen teil: "Unsere Erfahrungen mit Hengstenberg hatten Auswirkungen auf unsere eigenen Tätigkeiten und auch auf die Arbeit mit Kindern: Von dem Augenblick an, als wir Hengstenberg kennen gelernt hatten, fiel das Diktieren weg, wie 'Hebt die Arme, eins, zwei, jetzt beugt (...)'. Es ging nicht mehr darum, strikte Turnübungen vorzugeben. Vielmehr versuchten wir damals, Kinderturnen so zu gestalten, daß die Kinder selber mit Ideen zu der Arbeit beitragen, also aktiv teilnehmen konnten. Wir machten Angebote und sahen dann, was die Phantasie der Kinder dazu tun konnte. Das griffen wir auf und entwickelten es unter Umständen weiter. Es wurden immer mehr solcher - nicht nur Ideen - Einfälle, die man sehr gut aufnehmen konnte." (Interview Edelstein 1994)

Für Emmi Pikler fällt die Begegnung mit Elfriede Hengstenberg in die Zeit, in der sie gerade anfängt, ihre eigene Praxis aufzubauen. Hengstenberg, die bereits seit 1915 mit Kindern gearbeitet hat, kommt mit reicher Erfahrung und Fotomaterial von vielen Kindern aus ihrer Arbeit nach Budapest (Eine Auswahl an Material aus Elfriede Hengstenbergs Arbeit veröffentlichte Ute Strub 1991 unter dem Titel Entfaltungen – Schilderungen aus meiner Arbeit mit Kindern).

Durch ihr Vermögen, Qualitätsunterschiede in Stimmigkeit und Harmonie der Bewegung sehr differenziert wahrzunehmen und einzuordnen, bereichert und bestätigt sie Emmi Pikler in dem, was diese für sich herausgefunden hat und nun beginnt, entgegen den vorherrschenden, gängigen Vorstellungen, in der Betreuung von Familien umzusetzen.

Umgekehrt wird Elfriede Hengstenberg in Budapest vor Augen geführt, was die Möglichkeit zu selbständiger Bewegung schon für gesunde, noch ganz kleine Kinder bedeutet. Dies wiederum beeinflusst ihre Arbeit mit Eltern, auf die sie einwirkt, in die Bewegungsentwicklung ihrer Säuglinge und Kleinkinder von Anfang an nicht einzugreifen. (Interview Strub)

Die Arbeit mit Hengstenberg in den Budapester Sommerkursen bewirkt für viele eine grundsätzliche Änderung ihrer Haltung und Einstellung dem Leben gegenüber. Auch auf Emmi Pikler hat sie wesentlichen Einfluß. Die Qualität von 'mit Beziehung', im Sinne von wach und anwesend zu sein und zu reagieren, ist etwas, das sie bei Elfriede Hengstenberg erlebt. Der Begriff ‚in Beziehung sein‘ wird in ihrem Familien- und Freundeskreis zum geflügelten Wort.

In Berlin übersetzt Elfriede Hengstenberg für Elsa Gindler "Mit tud már a baba?". (Als Übersetzungsvorlage dient die französische Ausgabe. Da es sich bei dieser um eine gekürzte, in Emmi Piklers Augen schlechte Übersetzung handelt, kommt es zu dem Zeitpunkt nicht zur Veröffentlichung. Das Werk erscheint in Deutschland erst 1982 in neuer Übersetzung unter dem Titel Friedliche Babys - zufriedene Mütter). Elsa Gindlers in ihrem Dankesbrief an Elfriede Hengstenberg: "Das klingt ja, als sei es von uns, und man sollte es jeder Mutter in die Hand geben."

Emmi Pikler und Elfriede Hengstenberg treffen sich später noch zweimal: einmal, als Hengstenberg 1968 Budapest besucht, und 1983, als Emmi Pikler zu einem Besuch nach Berlin kommt.

(Anna Czimmek, Leben und Werk der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler (1902-1984). Diss. an der RWTH Aachen 1999, überarbeitetes Kapitel)