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Diese Worte stammen von Charlotte Selver, die sie zum ersten Mal in meiner Gegenwart vor einigen hundert Menschen sprach, die einen Nachmittag lang zusammengekommen waren um sie, die damals über 90 Jahre alt war, zu erleben und mit ihr zu arbeiten. Sie war sehr aufgeregt. Auf ihren Schultern lastete die Verantwortung schwer, vor all diesen Menschen die Arbeit, die sie von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby gelernt hatte, getreu weiterzugeben. Nachdem sie die Inhalte der Arbeit auf einige kurze präzise Sätze reduziert hatte, kam diese überraschende Frage.

Wozu wahrnehmen, wenn es keine Konsequenzen hat? Jede(r), die oder der längere Zeit mit Charlotte gearbeitet hat, kennt ihre Überzeugung, dass wir alle etwas tun müssten, um die Missstände auf dieser Erde zu lindern. Am liebsten hätte sie uns alle nach Südamerika oder Afrika geschickt, um dort den Unterprivilegierten zu helfen. In diesem Sinne waren ihre Worte zu verstehen. Sie appellierte an unser Gefühl der Verantwortung der Menschheit gegenüber. Die Arbeit sei keine Nabelschau und diene nicht dem persönlichen Wohlbefinden. Es war auch das erste Mal, dass sie meines Wissens in Deutschland, ihrer Heimat, die sie über ein halbes Jahrhundert vorher hatte verlassen müssen, die Verantwortung des Einzelnen öffentlich ansprach. Es war ein ungewöhnlich politischer Moment.

In den Jahren danach wiederholte sie diese Worte während der Arbeit öfters. Inzwischen höre ich mich selbst sie sagen. Wie ist es, zum Beispiel, beim Experimentieren – so nennen wir das, was wir bei einer Sensory Awareness-Stunde oder -Gruppe tun – wenn einem etwas auffällt? Etwas in der Beziehung zum Boden, in der Aufrichtung, in der Tätigkeit der Augen oder in der Atmung, das nicht ganz stimmt? Oder etwas, das sogar schmerzhaft ist? Was hat es für Konsequenzen, das zu spüren? Wie ist es im Alltag Derartiges gewahr zu werden? Schmerzen zu bekommen? Oder nur zu merken, dass man sich gerade viel zu viel Mühe macht? Oder schlaff und schwerfällig wie ein Sack Kartoffeln ist? Nicht gleich tätig zu werden ist schwer. Sich nicht richtig stellen zu wollen, so wie man sich das Richtige vorstellt. Keine Bewegungen und Übungen anzufangen um etwas zum Verschwinden zu bringen. Nicht zu den Spezialisten – einem nach dem anderen – zu rennen um diese und jene Behandlung über sich ergehen zu lassen. Was für eine Kraft ist notwendig und wie viel Vertrauen, um ruhig zu bleiben. Statt sofort etwas zu unternehmen, in einer Weise anwesend zu bleiben, die dem neuen Gleichgewicht eine Chance gibt und Klarheit entstehen lässt; Klarheit im Augenblick, die aber auch über diesen Augenblick und diesen Ort hinausreichen könnte. Die Konsequenzen des Wahrnehmens sich zeigen und wirken zu lassen.

Was hat es für Konsequenzen in der Pädagogik, wenn wir wahrnehmend werden? Dort ist die Neigung ebenso groß in übermäßige Aktivität zu geraten. Voll mit dem Anspruch, einem Anderen etwas beibringen zu wollen oder müssen, verlieren wir eben diesen Menschen leicht aus dem Sinn. Wir sehen diesen Anderen nicht mehr, hören ihn nicht, nehmen ihn nicht mehr wahr. Solche Verhältnisse sind beziehungslos und bieten fruchtbaren Boden für Unsicherheiten, die zu immer größerer Beziehungslosigkeit führen. Ohne den Anderen wahrzunehmen, ohne in eine wechselseitige Beziehung zu treten, werden unsere Handlungen willkürlich. Und wir vergessen, dass es nicht in unseren Händen liegt, ob der Andere etwas lernt. Wir können niemanden lernen machen.

Wann immer ich mich in dieser Verfassung erwische, empfinde ich die Überheblichkeit, die in dieser Haltung steckt. Diese Empfindung reicht meistens, um mich wieder zur Besinnung zu bringen. Es scheint dem Anderen auch zu ermöglichen, selbst aktiv zu werden. Er fängt dann an, das zu holen, was ich zu bieten habe. Und mehr noch. Er führt mich seinerseits an Orte, zu denen ich von mir aus vielleicht nicht gekommen wäre. Wenn das Wahrgenommene wirklich ernst genommen wird, finden wir zu den Konsequenzen.

Peggy Zeitler, Juni 2004