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Als meine erste Enkelin ungefähr drei Jahre alt war, schien sie die Sprache soweit gemeistert zu haben, dass sie genug Worte hatte (und Sätze bilden konnte), um alles ausdrücken zu können, was ihr gerade so durch den Kopf ging. Sie erzählte unaufhörlich.

Anfangs fühlte ich mich verpflichtet, ihr auf alles eine Antwort zu geben, entdeckte dann aber, dass das nicht nötig war. Mit einem Zeichen, dass ich sie gehört hatte, war sie zufrieden. Von der Antwort-Pflicht entlastet, wurde ich freier ihr wirklich zuzuhören.

Meine Enkelin und ich fahren im Auto auf der Landstraße. Meine kleine Beifahrerin unterhält mich dabei.

„Was ist das?“ sagt sie und zeigt auf etwas am Wegrand.
„Habe ich leider nicht gesehen.“
„Da, neben der Tür.“
„Ach, da blinkt es am Seitenspiegel, wenn ich blinke.“

Damit fängt ein Austausch über Phänomene des Blinkens an, der Monate lang andauern wird. Ich denke mir, wie früh sie anfängt, Autofahren zu lernen!

Zwischen den Blinkvorgängen beobachtet sie irgendetwas – jedoch nur, um gleich darauf von einem völlig anderen Einfall zu reden. Das eine bezieht sich auf den konkreten Moment, das andere scheint aus ihren individuellen Gedankenströmen zu stammen, die mir nicht bekannt sind: freie Assoziationen. Stark verkürzt, hörte sich eine solche Unterhaltung in etwa so an:

„Wo fahren wir hin?... Ich will beim Japaner essen.“
„Wir fahren zu mir in die Stadt.“
„Granpa H. ist nicht da. Er kommt nicht mehr.“
„Ja, das stimmt.“
„Ich gehe nicht mehr in die Spielgruppe, ich komm’ in den Kindergarten.“
„Ja, nach den Ferien.“
„Ich kann alleine auf die Schaukel und kann ganz hoch schaukeln.“

Ich höre ihr sehr gerne zu. Es scheint mir ein kostbares Geschenk zu sein, der ungehemmte Fluss von Einfällen. Es sind Gedanken im Moment ihres Entstehens. Die Enkelin hat noch nicht gelernt ihre
Äußerungen zu zensieren. Sie kennt noch keine Grammatik, keine Stilnormen, keine Sittenwelt. Mit drei hat sie noch nicht erfahren, dass ihre Gedanken schlecht ankommen könnten, dass es vielleicht besser wäre, sie für sich zu behalten, zu schweigen. Es strahlt noch die pure Freude am Sprechen von ihr aus. Und ich darf beim Zuhören ein bisschen an ihrer wundersamen Welt der Ideen teilhaben.

Zeugin dieses unverfälschten Denkens zu sein, lässt mich aufhorchen. Wie ist es mit meinem eigenen Denken? Als erstes konfrontieren mich oft gehörte Vorbehalte gegenüber dem Denken: dumm sind die Gedanken, „die dummen Gedanken“ und im Kreis drehen sie sich auch noch. Darüber hinaus hört man in verschiedenen Zusammenhängen, dass sie sogar ganz zum Schweigen gebracht werden sollten!

Den Gedanken gegenüber aufmerksamer zu werden, öffnet den Weg für neue Erfahrungen. Ich erlebe, wie Ideen, recht amorphe Gefühle, aus der Tiefe aufsteigen. Sehr zart sind sie. Die Wahrnehmung ist so flüchtig, dass es größte Wachheit bedarf, diese Regungen mitzubekommen. Es bedarf viel Geduld, sie Form annehmen zu lassen. Schließlich drängen Worte ins Bewusstsein. Sie verbinden sich und werden zu Gedanken. Es entsteht das Gefühl, „Ja, so ist es.“

Von meiner Enkelin habe ich gelernt, dass jeder von uns eine inhärente Logik hat, die in allem, was wir von uns geben, zu finden ist. Diese ureigene Logik prägt auch die Gedanken, die es verdienen, dass man ihnen zuhört und vertraut.

Entsprechend hört sich ein Telefongespräch mit meiner zweiten Enkelin im Alter von drei Jahren ganz anders an.

„Hello, Peggy. Du, das Baby will aus dem play pen (Spielgitter) raus.“
„Ist sie nicht mehr glücklich da drin?“
„Schab’ (Ich habe) Bücher, blaue Bücher von
Granny.“
„Hat Dir Granny Bücher geschickt?“
„Da ist eine Frau da.“
„Wer ist das?“
„Tschüss!“

Peggy Zeitler, August 2007