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Flüchtige Augenblicke

Wenn man bedenkt, dass es für mich immer so etwas wie ein Lebenselixier gewesen ist, draußen zu sein und gehen zu können, dann waren die letzten beiden Jahre sehr hart. Denn mir war die Selbstverständlichkeit des Gehens abhanden gekommen. Seit der großen Hitze im vorigen Sommer geschah es nicht selten, dass ich die Wohnung verließ, um irgendwohin zu Fuß zu gehen, und dass ich wenige Schritte vom Haus entfernt wieder umdrehen musste. So schwach war ich, dass ich entweder meinen Plan aufgab und wieder in meine Wohnung hinaufkletterte oder dass ich mich in die Sicherheit meines Autos begab. Das Auto wurde im Laufe des Jahres ein treuer Begleiter und war häufig auch meine letzte Rettung.

Es ist August, und in Bayern bedeutet das: Sommerferien!

Seit über 25 Jahren verbringe ich die Ferien damit, jeden Morgen, bevor die Leute ins Büro, ins Geschäft oder wohin auch immer müssen, eine Stunde mit ihnen in der Praxis zu arbeiten. Den Tag auf diese Weise zu beginnen, ist für uns alle etwas besonderes.

Das heißt für mich aber auch, dass ich jeden Tag früh aufstehen muss, und zwar sehr früh. Da ich morgens viel Zeit brauche, in Gang zu kommen, stehe ich mit der Sonne auf, wenn nicht sogar vor ihr. Die Tage werden im Laufe des Monats August auffallend kürzer. Und so spiele ich mit der Sonne, wer von uns beiden zuerst auf ist. Wegen des häufigen Regens in diesem Jahr, der zumeist während der Nacht fällt, tapse ich öfters, wenn der Wecker geklingelt hat, genüsslich im Halbdunkel durch die Wohnung. 

Die zunehmende Helligkeit und das Widerspiel der Farben locken mich mit ihrem Zauber aus dem Bett. 

Nachdem ich mich an den ersten beiden Tagen dieser Morgenstunden ohne nachzudenken ins Auto gesetzt habe, um in die Praxis zu fahren, packt mich am dritten Tag die Schönheit des Sonnenaufgangs. Und so mache ich mich, wenn auch etwas zögerlich, zu Fuß auf den Weg. Wohl bemerkt weiß ich, dass ein Bus die Strecke entlang fährt, in den ich jederzeit einsteigen könnte.

Als ich vor das Haus trete, werde ich mir meiner Kühnheit bewusst. Werde ich es tatsächlich schaffen? Ein Zurück darf es nicht geben!

Die ersten zehn Minuten beobachte ich jeden meiner Schritte: Nicht so schnell – Kopf hoch – richte Dich auf – lass die Beine nicht so schleppen.

Als ich auf der Isar-Brücke anlange und den weiten Blick nach Norden zum Wehr hin vor mir habe, vergesse ich die Angst. Ein kurzes Verweilen bei diesem vertrauten Anblick und weiter geht es. Es folgt noch eine kurze Strecke und ich bin im Englischen Garten. – Es ist schon etwas besonderes, in dieser Stadt in der Nähe des Flusses und des Englischen Gartens zu wohnen, auch wenn man das natürlich nicht mit einem Leben auf dem Lande umgeben von Wäldern vergleichen kann.

Im Park breiten die Bäume ein Dach über mir aus. Die Luft ist angenehm kühl. Die Stille wird nur durch das Krächzen der Krähen unterbrochen. Gelegentlich fährt jemand auf dem Rad an mir vorbei – oder der Bus, auf den ich nun doch verzichte. Die Sonnenstrahlen zaubern Lichtspiele auf die Blätter und auf die Wege.

Und dann ein Hase! Und noch einer! Der erste hört zu fressen auf und hält kurz inne, als ob er lauschen würde. Dann hoppelt er ohne Hast los, zu dem anderen hin, und gemeinsam verschwinden sie zwischen den Bäumen.

Ich schaue, wie weit ich gekommen bin und wie lange es noch dauern wird, bis ich den Park wieder hinter mir lassen werde.

Das Glücksgefühl steigert sich noch einmal um einiges, als ich rechts an der weiten, offenen Wiese vorbei komme, auf der noch die Gänse schlafen. Ich schaue bis zum See hinüber, von wo aus der Blick in die Weite des Himmels hinaufgezogen wird.

Hinter der Wiese wendet sich der Weg nach links, und bald gehe ich durch die Straßen von Schwabing. Vom Park bis hin zur Praxis sind es noch zwanzig Minuten. Der Weg führt durch ein gewachsenes bürgerliches Stadtviertel, vorbei an Häusern aus dem 19. Jahrhundert und der Gründerzeit. Auch schön!

Pünktlich und ohne Beschwerden komme ich an.
– Nach der Gruppe reicht die Kraft noch bis zum Park. Dort steige ich in den Bus.

Jeden Tag probiere ich nun aufs Neue, zu Fuß zu gehen. In den ersten Tagen dieses Abenteuers bin ich noch bewusst vorsichtig. Mehrmals entschließe ich mich nach der Gruppe auf halbem Wege den Bus zu nehmen. Doch inzwischen schaffe ich es, den ganzen Weg in beiden Richtungen zu Fuß zu gehen. Nach der Arbeit genieße ich das Feriengefühl: Ich habe Zeit und weiche vom üblichen Weg ab, um die Freude des Wieder-gehen-Könnens zu verlängern und das Ankommen hinaus zu zögern.

Flüchtige Augenblicke!

Peggy Zeitler, August 2011