Emmi Pikler - eine „pädagogische“ Kinderärztin - Aspekte ihrer medizinischen Arbeit damals und heute1
aus: Vortrag von Anna Czimmek in Budapest am 19.April 2007
Emmi Pikler wollte ursprünglich Geburtshilfe, also Frauenheilkunde, oder Kinderheilkunde studieren. Da sie sich aber eigentlich für die Entwicklung von Kindern interessierte und nicht für Frauenkrankheiten, führte ihr Weg doch zur Pädiatrie. In ihrer Ausbildungszeit in Wien bei Professor Clemens von Pirquet und dem Kinderchirurgen Hans Salzer wurde sie nicht vornehmlich durch deren herausragende Leistungen als wirkliche und gute Kliniker geprägt, sondern durch den Umgang der beiden mit den Kindern und die Haltung dem Kind gegenüber, wie Emmi Pikler immer wieder beschrieben hat. Bei Pirquet mussten junge Ärzte Säuglingspflege und ‑ernährung lernen, die Kinder durften aus ihren Betten, sich bewegen und spielen. Salzer redete mit einem Kind solange, bis es sich ohne Angst untersuchen ließ. Das sind Aspekte ärztlicher Arbeit, die etwas grundsätzlich Menschliches im Kind ansprechen und nicht unbedingt an das Behandeln von Krankheit gebunden sind!
Die Wiener Zeit und ihre späteren Beobachtungen von Kindern und deren Familien gaben Emmi Pikler den Anstoß zu weiteren Gedanken und Studien zum Wesen der kindlichen Entwicklung. Bis ins kleinste Detail verfolgte sie, wie ein Baby Schritt für Schritt vom Liegen auf dem Rücken bis zum Stehen und Gehen kommt, ohne dass der Erwachsene es ihm zeigen muss. Durch das Studium dieses frühen, konkret fassbaren Entwicklungsbereiches gewann Emmi Pikler Einblick in allgemeine Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung, die weit über die der Bewegung hinausreichen. Sie erkannte allerdings auch, dass diese eigenständige - wenn man so sagen will, vom Erwachsenen unabhängige – Entwicklung in Spiel und Bewegung untrennbar verbunden ist mit einer tragenden Beziehung zu den Eltern oder einem anderen Erwachsenen.
Durch diese Erkenntnisse entstand für Emmi Pikler ein Bild vom Kind, das nicht unbedingt der gängigen Vorstellung entsprach. Kinder waren für sie von Natur aus friedlich, an sich selbst und an ihrer Umgebung interessiert, aktiv und selbstbewusst, sie aßen mit Appetit und schliefen gut.
Was also war für Emmi Pikler Medizin? In welchem Verhältnis steht ihre Auffassung von Medizin zur heutigen Praxis?
Normalerweise geht man zum Arzt, wenn man krank ist. In China gibt es dagegen eine Tradition, in der ein Arzt seinen Lohn dafür bekommt, dass sein Patient gesund ist und bleibt. Auch Emmi Pikler stellte die Gesundheit in den Mittelpunkt ihres ärztlichen Wirkens. Sie ging von dem eben beschriebenen Bild eines Kindes aus. Traten Schwierigkeiten auf, wie etwa Fremdeln, Koliken, Zahnen, Schlafprobleme oder mangelnder Appetit, so waren das Zeichen für sie. Über die Eltern half sie dem Kind wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Sie besuchte die Familien in regelmäßigen Abständen, die Säuglinge sogar wöchentlich, - und zwar nicht erst, wenn ein Kind krank wurde! Mit den Eltern beobachtete sie das Kind in seiner gewohnten Umgebung und besprach mit ihnen alle Fragen der allgemeinen und gesundheitlichen Entwicklung. Sie unterstützte die Mütter beim Stillen und hatte progressive Vorstellungen zur gesunden Ernährung. Oberste Maxime dabei war immer: Essen sollte vor allem eine Freude sein. Es gab kein Detail, das es nicht wert war betrachtet zu werden. Es war wichtig, was das Kind gern mochte, ob es das Essen lieber lauwarm oder heiß, flüssiger oder fester, süß oder salzig hatte. Es musste keinen Löffel mehr essen, als es von sich aus mochte. Andere Themen konnten sein Schlafplatz, Schlafrhythmus, Aufenthalte an der frischen Luft, Zeit und Raum für eigene Aktivität des Kindes wie auch Zeit und Raum für die Eltern, ihren Aufgaben nachzugehen.
Ich zitiere Judit Falk: „Die Grundlage der Gespräche war ein Heft, in dem die Eltern Ereignisse, Beobachtungen, Fragen und Probleme aufschrieben. Emmi Pikler ging das Heft und die Fragen mit ihnen durch und schrieb ihre Hinweise und vorgeschlagenen Veränderungen in dieses Heft. Sie erklärte ihre Ratschläge genau. Wenn die Eltern ihre heiteren und ausgeglichenen Kinder sahen und sich des Wertes ihrer unabhängigen Aktivität bewusst waren, konnten sie sich – solange sie in Seh- oder Hörweite blieben – ohne Gewissensbisse ihrer übrigen Arbeit, ja sogar einer Freizeitbeschäftigung widmen. Auf diese Weise fühlten sie sich nicht als Sklaven ihres Kindes und betrachteten das Kind nicht als ihr Spielzeug. Sie freuten sich an seiner Aktivität und Entwicklung. Die Zeit bei der Pflege verbrachten sie gern mit ihm zusammen und wurden nicht ungeduldig, wenn das Kind die ihm zugedachte Zeit schelmisch spielend verlängern wollte.“2
Diese Art der Betreuung war medizinisch gesehen unkonventionell.
Der Halt, den Emmi Pikler der Familie gab, lässt an den Begriff „Holding“ von Donald W. Winnicott3 denken – dem „Gehalten sein“ in einer unterstützenden Umgebung, in der das Kind in Bereichen seiner Kompetenzen Raum für autonome Entfaltung findet.
Die heutige Säuglingsforschung spricht von „Bindung“. Emmi Piklers Ansatz, die Eltern darin zu unterstützten, ihre Kinder zu sehen und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, ermöglicht eine Beziehung, die differenzierter ist und mehr ist als ein physisches „Aneinandergebundensein“. Er erlaubt wirkliche Nähe und Begegnung, aber auch, dass jeder für sich sein kann. Die entstehende Bindung hat eine hohe Qualität und Tiefe. Sie gibt beiden Seiten Sicherheit.
Piklerkinder waren gesunde Kinder! Sie wurden selten krank und wenn doch, dann in der Regel nicht schwer. Ansonsten entsprachen sie dem oben beschriebenen Bild. Wie Emmi Pikler in „Friedliche Babys – zufriedene Mütter“ schreibt, schildern ehemalige Piklerkinder „ihr Kleinkindalter als eine angenehme, glückliche Periode ihres Lebens“.
Nicht nur das! Emmi Piklers Erfahrungen in der Familie ließen sich sogar auf die Verhältnisse im Heim übertragen, von denen man bis heute annimmt, dass sie keine gesunde Entwicklung zulassen! Von der Weltgesundheitsorganisation unterstützte Nachuntersuchungen an ehemaligen “Lóczy”4-Kindern bestätigen, dass diese ohne Folgen des Hospitalismus groß geworden sind, obwohl sie relevante Abschnitte ihres Lebens im Heim verbracht haben.
Gleichwohl: Sich als Kinderärztin auf die Pflege von Gesundheit zu konzentrieren, hieß für Emmi Pikler nicht, Krankheiten zu vernachlässigen!
[..., der vollständige Vortrag findet sich unter "Unser Stammbaum/ Weitere Personen/ Anna Czimmek"]
Emmi Pikler engagierte sich im Rahmen internationaler Expertentreffen im Bereich der sozialistischen Länder für die Erstellung einer einheitlichen Nomenklatur der verschiedenen Entwicklungsbereiche des Säuglings und des Kleinkindes. Sie übernahm den Bereich der Bewegungsentwicklung und war allerdings die einzige, die ihre Aufgabe erfüllte. Daraus entstand das fünfsprachige Wörterbuch mit kurzen, jeweils sehr präzise formulierten Beschreibungen in Ungarisch, Russisch, Englisch, Französisch und Deutsch, ergänzt durch die Zeichnungen von Klara Papp. In deutscher Sprache ist diese Arbeit 1988 in „Laßt mir Zeit“5 veröffentlicht worden.
Heute findet Emmi Piklers Arbeit von ganz anderer Seite Bestätigung. Kürzlich hörte ich in Salzburg einen Vortrag des Hirnforschers Gerald Hüther. Zum Thema „Lernen“ erläuterte er, dass sich im kindlichen Gehirn Nervenbahnen dadurch bilden und vernetzten, dass das Kind Herausforderungen begegnet und sie selbst bewältigt. Damit diese Vernetzungsvorgänge im Gehirn stattfinden können, bräuchte es neben dem Sammeln von Erfahrungen in selbständiger Aktivität eine sichere Beziehung, die diesen zugrunde liegt.
Kommt uns das nicht bekannt vor? Laut Hüther steht als Konsequenz dieser Forschungsergebnisse eine Revolution in unserem Denken und Verständnis von Lernen an.
Da war Emmi Pikler ihrer Zeit offensichtlich weit voraus.
Wie wenig selbstverständlich ihr Wissen und ihre Erkenntnisse bis heute sind und wie wenig Konsequenzen bisher aus der modernern Hirnforschung gezogen werden, erleben viele Eltern mit ihren Babys tagaus, tagein. Emmi Pikler setzte ihre revolutionäre Sichtweise des Babys und des kleinen Kindes als Ärztin und allgemein im Leben der Kinder konsequent um. Sie beeinflusste damit das Selbsterleben des Kindes, das getragen in der Beziehung zum Erwachsenen seine Kompetenz selbständig entfalten konnte, und stärkte durch ihre Begleitung die Familie als Ganzes und damit die Gesellschaft. Egal ob Ärzte oder nicht, wir können noch sehr viel von ihr lernen.
1 Auszug aus: Czimmek 2007 (CZIMMEK, Anna 2007: Emmi Pikler - eine „pädagogische“ Kinderärztin - Aspekte ihrer medizinischen Arbeit damals und heute. Vortrag, 19. April 2007, Internationale Konferenz in Budapest, Pikler Institut, „Fühlen, verstehen, handeln, vermitteln - Eltern, Fachleute und Kleinkinder“, Das Gedankengut Emmi Piklers und ihre vielfältigen Anwendungsbereiche, 19.-21. April 2007)
2 Interview Falk, Judit 1994
3 Donald Woods Winnicott (1896-1971(, englischer Kinderarzt und Psychoanalytiker. In den 90er-Jahren fand in Frankreich ein Symposium zum vergleich Winnicotts mit Emmi Pikler statt.
4 Spitzname des Säuglingsheims in der Lóczystraße, das Emmi Pikler 1946 gründete und das nach ihrem Tod in „Emmi Pikler Institut“ umbenannt wurde
5 Pikler, Laßt mir Zeit 1988