Emmi Pikler Wege der Entfaltung e.V.

... wenn uns auf der Strasse ein kleines Kind begegnet? Ist es nur der Anblick dieser Miniaturversion unserer selbst, der uns amüsiert, oder berührt das Aufrechte an diesem kleinen, selbstbewussten, unbeirrbaren Wesen etwas in uns, das tiefer liegt?

Meine ein- und dreijährigen Enkelinnen beeindrucken mich immer wieder, wenn wir zusammen unterwegs sind. Sie wissen genau, wo sie hin wollen und führen mich zielstrebig nach einer mir nicht erschließbaren Logik. Ihr Interesse wandert von einem zum anderen. Es scheint nichts zu geben, was sie nicht sehen und hören.

Obwohl sie die Leute bemerken, die innehalten, sie anlächeln oder ansprechen, lassen sie sich von deren Aufmerksamkeit nicht ablenken. Vielleicht lächeln sie zurück oder schauen jemandem kurz in die Augen, doch dann setzen sie ihren Weg fort. So in ihre eigene Welt vertieft und erfüllt von ihren Erkundungen und Eroberungen, könnte ihr Verhalten aus unserer Sicht fast asozial erscheinen. Und doch spricht uns dieses Verwurzeltsein im eigenen Erfahren an.

Jetzt, als Großmutter, höre ich, könne ich die Kinder erst richtig genießen. Gewiss! Doch wenn das, was ich gerade für notwendig halte, ihren Interessen nicht entspricht, erlebe auch ich Konfrontationen mit dem noch nicht sozialisierten kindlichen Wesen. Und es ist mir klar, dass der gelegentliche Besuch bei den Großeltern nicht der Alltag mit Kindern ist. Und doch möchte ich versuchen das anzusprechen, was es zumindest teilweise so schwer macht, die Kinder so zu sehen und zu genießen, wie wir Großeltern es tun.

Wenn die eigene Erziehung einigermaßen gelungen ist, hat der erwachsene Mensch einen guten Teil der Werte, die seine Umwelt zu bieten hat, angenommen oder auch, falls er diese ablehnt, andere dafür adoptiert. Bewusst oder unbewusst ist ein Konzept entstanden, das aus Vorstellungen von richtig und falsch, aus Zielen für Beruf und Selbstverwirklichung, für eine eventuelle Partnerschaft, einen Lebensstil und vieles mehr besteht.

Wie passen Kinder, die ja oft schon Teil dieser Vorstellungen sind, in unser Konzept? Egal, wie erwünscht sie waren : wenn sie da sind, stellen sie uns vor unerwartete Herausforderungen. Ein Baby lebt das ganze Spektrum menschlicher Emotionen und Impulse ungehemmt aus, während wir (Erwachsene) gelernt haben, sie mit größter Mühe unter Kontrolle zu halten : mit mehr oder weniger Erfolg.

Werden die Babys dann älter, scheint die Verständigung zwischen uns immer besser zu werden. Das Kleinkind ist an allem interessiert, was wir tun, und wir können miteinander sprechen. Doch plötzlich passiert etwas und wir können oder wollen uns nicht mehr verstehen. Emotionen und Konflikte beginnen das Bild vom friedlichen Zusammenleben zu sabotieren. Jetzt ertappe ich mich bei intuitiven Reaktionen, die nicht in mein Konzept passen.

In den intuitiven Reaktionen liegt zweifellos viel Wertvolles, aber auch Vieles, was man in Frage stellen könnte. Wesentlich ist, dass all das ich bin und, dass die Kinder mir einen Spiegel vorhalten. Erbarmungslos durchdringen sie die dicksten Mauern, die ich eigentlich für die Ewigkeit errichtet hatte. Mit der gleichen Kraft, mit der ich mich dagegen wehre, reißen sie mein Konzept wieder ein. Ich bin, ob ich will oder nicht, mit mir selbst konfrontiert.

Doch wenn es mir gelingt, diese Verunsicherung anzunehmen und meine Abwehr aufzugeben, kann sich daraus - durch die Kinder - eine wunderbare Gelegenheit ergeben, in mir wieder etwas von dem zu erleben, was ich am Anfang selber war : ein kleines, aufrechtes, selbstbewusstes und unbeirrbares Wesen. Dann bin ich ein bisschen näher daran, die Kinder so zu genießen, wie es Großeltern tun.

Peggy Zeitler, Juni 2005

Pikler

Hans, 4 Jahre, 5 Monate