1889 Frankfurt am Main - 1964 Zürich
"Ich selbst hatte mich mit großen körperlichen Behinderungen infolge vielen Krankseins in der Jugend und mit damit zusammenhängenden Arbeitskonflikten während meines Studiums herumzuschlagen. In dem Maß, in dem mir die Überwindung bei mir selbst gelang, wurde ich skeptisch gegenüber der Meinung von der Unüberwindbarkeit solcher Schwierigkeiten bei anderen. So kam ich schon sehr früh zu der Überzeugung, daß auch das, was man so leichthin als 'unbegabt' zu bezeichnen gewohnt ist, gar nicht 'Fehlen einer Gabe' sein müsse, und daß 'etwas trotz vieler Mühe nicht zu können' nicht mit 'dafür unbegabt zu sein' gleichgesetzt werden dürfe."
(Heinrich Jacoby, Musik Versuche Gespräche)
1908-1913 studiert Jacoby Komposition und Orchesterdirektion bei Hans Pfitzner und wird unter seiner Direktion Kapellmeister und Regievolontär am Straßburger Stadttheater. Aber sein Interesse gilt zunehmend der Pädagogik, erst der Musikerziehung, dann alle Bereiche umfassend (Dresden-Hellerau, Odenwaldschule). "1919, mit dem Beginn normalerer internationaler Beziehungen nach Kriegsende stellte ich auf Vorträgs- und Konzertreisen meine Erfahrungen und meine Arbeitsweise wieder zur Diskussion." 1925 lernt Heinrich Jacoby die Arbeit von Elsa Gindler kennen. "Seit 1926 trafen wir uns alljährlich im Sommer für 1-2 Monate mit einem großen Kreis gemeinsamer Schüler aus verschiedenen Ländern zu Arbeitsgemeinschaften in Deutschland, in der Schweiz oder in Italien."
(Heinrich Jacoby, Musik Gespräche Versuche)
1933 verläßt Jacoby Deutschland und geht nach Zürich, wo er unter unsicheren bis bedrohlichen Bedingungen lebt, die erst ein Ende nehmen als er schließlich 1955 die Schweizer Staatsangehörigkeit erhält.
"Allmählich wird Ihnen auffallen, wie unzweckmäßig der zivilisierte Mensch sich beim Gebrauch seiner Sinnesorgane verhält. An Blumen z.B. schnüffelt er, als ob einem der Duft nicht von selber in die Nase stiege! Auch hierbei kann man mit aktivem Einatmen nichts dazu beitragen, besser oder differenzierter zu riechen. Durch kein Sichanstrengen kann man etwa die Süße oder die Schärfe, die einem 'auf die Zunge' kommen, mehr oder differenzierter schmecken! [...] Tun müßte man jedenfalls überhaupt nichts; man hätte nur zu versuchen, anwesender, stiller zu werden, d.h. andere Dinge, die einen besetzt halten, abklingen, zurücktreten zu lassen! Wir müßten uns so verhalten, daß uns das, was uns bereits getroffen hatte, auch bewußt empfindbar werden kann. [...] Die Sinnesorgane selbst sind so vollkommen, daß an ihnen nichts zu 'schulen' ist."
(Heinrich Jacoby, Jenseits von "Begabt" und "Unbegabt")
In einer Diskussion sagte einmal Wilhelm Ostwald, der große Chemiker und Nobelpreisträger (Ihnen vielleicht als der Begründer der Ostwaldschen Farbenlehre bekannt): "Selbstverständlich ist eigentlich nur das, worüber ich noch nicht nachgedacht habe!" Damals war er beinahe 80 Jahre alt. In diesem einen Satz steckt die Lebensweisheit eines wirklichen Forschers!
"Selbstverständlich" ist nur das, womit man sich noch nicht auseinandergesetzt hat. Wir sind auf Grund unserer Schulbildung und Lernvergangenheit bis obenhin angefüllt mit solchen "Selbstverständlichkeiten", d. h. wir "wissen" lauter Sachen, die wir noch gar nicht wissen. Aus diesem Grunde werden Sie in unseren Gesprächen viele altgewohnte und "liebe" Meinungen als angegriffen empfinden und manchmal vielleicht schockiert sein, weil etwas, das so ganz selbstverständlich zu sein scheint, nun gar nicht mehr so selbstverständlich sein soll.
Und damit komme ich zu einer weiteren Bitte: Wenn ich sage, ich möchte, daß Sie nichts lernen bei mir, so will ich damit gleichzeitig sagen: Ich möchte, daß Sie mir auch nichts glauben! Das spreche ich aus mit dem Wunsch, daß Sie es ernst nehmen mögen.
Bitte fragen und protestieren Sie bei allem so lange, bis Sie es nicht mehr nur hinnehmen müssen! Ohne dieses beharrliche Bedürfnis nach Überprüfen und nach Ein- und Zuordnung zu Überprüftem bleiben auch die "richtigsten" Aussagen "falsch". Auch das "Wahre" ist so lange noch "falsch", wie wir es unüberprüft hingenommen haben, solange wir seine Wahrheit nicht erlebt haben. Etwas kann noch so wahr sein; es ist nicht meine Wahrheit, wenn ich sie nur hinnehme. Dabei spreche ich nicht von "der" Wahrheit, sondern von der Wahrheit von etwas, vom Wahrsein von etwas. Die allgemeine Wahrheit gibt es so wenig, wie es eine Freiheit an sich gibt. Es wird immer ein Freisein für etwas, ein Freisein von etwas sein müssen und ein Wahrsein von etwas gegenüber dem, von dem es sich als wahr abheben wird.
Herr A.: Meinen Sie, daß man sich wirklich die gesamten kulturellen Errungenschaften der Menschheit vom Uranfang her erarbeiten müßte?
H.J.: Selbst an dieser zugespitzten Formulierung, die ich nicht so aus gesprochen habe, ist etwas Richtiges. All die differenzierten Gehalte unseres durch Jahrtausende zusammengetragenen und überlieferten Kulturgutes sind auf relativ wenige Grundfunktionen und Grundtatsachen zurückzuführen. Wenn man sich mit diesen auseinandergesetzt hat, erlebt man neue Tatbestände entweder als echte Analogien zu schon Erarbeitetem oder als Differenzierungen und Ableitungen davon.
Dr. X.: Aber es gibt doch Dinge der wissenschaftlichen Erkenntnis, die festliegen, wie z. B. mathematische, algebraische, chemische Grundbegriffe, das Fallgesetz und dgl. Alles das kann man sich doch nicht erst noch einmal erarbeiten.
H.J.: Gerade all das muß man sich — jeder für sich neu — erarbeiten! Es muß auch das Wahrsein-Sollen von etwas, das Richtigsein-Sollen von etwas, das ganz allgemein als richtig anerkannt ist, von jedem neu erarbeitet und nicht bloß gelernt werden. Auf Grund der persönlichen Vergangenheit kann es allerdings kaum jemand anders sehen, als Dr. X. es eben ausgesprochen hat.
Gerade beim Fallgesetz ist es nicht nur möglich, sondern notwendig, daß jedes Kind sich die Grundlagen dafür erarbeitet.
Nur muß der Lehrer Situationen schaffen, in denen dem Kind gewisse Tatbestände so auffallen müssen, wie etwa Galilei seinerzeit über gewisse Phänomene "stolpern" mußte, um schließlich das Fallgesetz erkennen und aussprechen zu können. Es handelt sich dabei um verhältnismäßig einfache Phänomene. Aber besonders dort, wo wir auf Grund des bloßen Gelernthabens komplizierte Hintergründe vermuten, treffen wir elementare Zusammenhänge an, die jeder, aber auch jeder Mensch sogar an sich selber, am eigenen Leibe, zu erleben vermag und mit denen er sich auf der Grundlage eigener Erfahrung so weit auseinandersetzen könnte, daß er nicht bloß "glauben", auf Autorität hinnehmen müsste, sondern selber ausprobieren und nachprüfen könnte.
(Heinrich Jacoby, Jenseits von "Begabt" und "Unbegabt", S. 29 ff)