Die pädagogische Maxime Heinrich Jacobys, Menschen nicht für etwas interessieren zu wollen, sondern zu spüren, für was sie sich bereits interessieren, charakterisiert, was Elfriede Hengstenberg in ihrer jahrzehntelangen Arbeit gelungen ist.
Mit Phantasie und Einfühlungsvermögen bot sie den Kindern Aufgaben und Gegenstände, an denen sie sich zuverlässig in Ruhe und Bewegung erproben konnten. Zuverlässig deshalb, weil Dinge unmittelbar Naturgesetzen wie der Anziehungskraft der Erde gehorchen. Sie beantworten das mehr oder weniger sinnvolle Vorgehen des Kindes stets auf die gleiche Art und Weise. So tragen sie eher als Worte zur Veränderung eines Verhaltens bei, mit dem das Kind sonst seiner eigenen Entfaltung im Wege stehen würde.
Elfriede Hengstenberg hat als ausgebildete Gymnastiklehrerin seit 1915 in Berlin privat und an Schulen unterrichtet. Mit 25 Jahren nahm sie das Gymnastikstudium bei Elsa Gindler (1885-1961) wieder auf, was ihre Unterrichtsweise grundlegend verändern sollte. Von 1920 an, nach erteilter Lehrerlaubnis, hat sie - bald zu Gindlers engstem Freundeskreis gehörend - an der • stetigen Weiterentwicklung dieser Arbeit teilgenommen.
Vier Jahre später begann ihre intensive Auseinandersetzung mit den Anregungen und Ergebnissen des Musikpädagogen Heinrich Jacoby (1889-1964) auf dem Gebiet der Begabungsforschung.*
Elsa Gindler und Heinrich Jacoby, die später eng zusammenarbeiteten, verstanden unter Erwachsenenbildung eine Chance zur Nachentfaltung allgemein menschlicher, aber meist brachliegender oder in der Kindheit entmutigter Fähigkeiten. Sie erforschten die Möglichkeiten, eingefahrene Verhaltensweisen aufzugeben, um die Vertrauensbereitschaft, die Hingabe, den Ernst und die Freude wieder zu gewinnen, mit der der Mensch von Geburt an für das Herangehen an seine Lebensaufgaben ausgestattet ist. Mit ihren Schülern arbeiteten sie an einer unmittelbaren Beziehung zu den regenerierenden Vorgängen des Organismus in allen Lebensbereichen.
Der Aufforderung zur nachträglichen Entfaltung durch immer wieder neues Ausprobieren sinnvollen Verhaltens im Alltag hat sich Elfriede Hengstenberg ihr Leben lang gestellt. Die Arbeitsweise Gindlers und Jacobys auf die Arbeit mit Kindern zu übertragen und ihren Bedürfnissen entsprechend zu entwickeln, war das Anliegen ihres Lebens.
Als sich 1935 Elfriede Hengstenberg und die ungarische Kinderärztin Dr. Emmi Pikler (1902-1984) begegneten, zeigte sich, dass beide unabhängig voneinander in dem Bedürfnis nach Selbständigkeit ein wesentliches Merkmal kindlicher Entwicklung erkannt hatten, an dem sich ein angemessenes Verhalten der Erwachsenen im Umgang mit dem Kind orientieren kann.
Die Voraussetzungen der selbständigen Bewegungsentwicklung als Grundlage einer gesunden Persönlichkeitsentfaltung, die Emmi Pikler für die ersten drei Lebensjahre des Kindes praktisch realisiert hat,* kennzeichnen auch die Arbeitsweise von Elfriede Hengstenberg mit Kindern nach dem dritten Lebensjahr: die Achtung vor der Eigeninitiative des Kindes und eine Umgebung, die zu Entdeckungen verlockt.
Solange sich das Kleinkind der notwendigen Geborgenheit durch den Erwachsenen sicher ist, kann es bei der selbständigen Suche nach dem Gleichgewicht, in der Auseinandersetzung mit der Anziehungskraft der Erde, den Grund dazu legen, auch sein inneres Gleichgewicht zu finden.
Bei einer gestörten Entwicklung, die in unterschiedlichen Fehlgewohnheiten und Haltungsschäden sichtbar wird, können sich Kinder und Jugendliche, durch eine verständnisvolle Atmosphäre ermutigt, vor allem an selbständig zu lösenden Gleichgewichtsaufgaben wieder neu orientieren.
So wie das Kleinkind in vielfältigen Übergangsituationen immer von neuem sein Gleichgewicht erprobt und riskiert, stellen größere Kinder beim Balancieren und Klettern ihre Fähigkeiten auf die Probe, wo immer sie Gelegenheit dazu finden. Jede Situation, in der das Gleichgewicht auf dem Spiel steht, erfordert ein waches Dabeisein, das ordnend zurückwirkt.
In Orientierungsabenden, Einzelberatungen und Kursen gab Elfriede Hengstenberg Eltern - in den 50er und 60er Jahren über den Berliner Senat auch Lehrern - Gelegenheit, diese Arbeit und ihre Auswirkungen im täglichen Leben an sich selbst zu erfahren. Sie hat das, was sie bei den Kindern bewirken konnte, auch auf den guten Kontakt mit den Eltern und deren Mitarbeit zurückgeführt.
Anhand von Bildern und Bildfolgen schildert Elfriede Hengstenberg, die bis 1980 mit Kindern arbeitete, einen Weg, der zur Entfaltung junger Menschen führt.
Ute Strub
Berlin, Oktober 1990
(Vorwort: Elfriede Hengstenberg – Entfaltungen)