Emmi Pikler Wege der Entfaltung e.V.

Mit jedem neuen Kindergartenjahr richtet sich unsere Aufmerksamkeit in den ersten Wochen besonders auf das An- und Ausziehen in der Garderobe und das Brotzeit machen. Das sind die täglich wiederkehrenden existenziellen Lebenssituationen, die uns zeigen, inwieweit die Kinder in der Lage sind, sich selbst zu organisieren. In diesem Lebensalter sind diese Abläufe noch nicht automatisiert und stellen einen wesentlichen Aspekt der Lebensbewältigung der Kinder dar. Es ist unsere Aufgabe zu erkennen, ob, und wenn in welchem Maße, die Kinder Unterstützung oder Hilfestellung brauchen.

Jedes Kind hat sein eigenes, mehrteiliges Garderobenfach: ein unteres für die Straßenschuhe, ein Zwischenfach für die Hausschuhe, ein höheres mit einem Drehhaken für Jacke und Rucksack, und darüber ein Ablagefach. Wenn die Kinder neu kommen, zeigen wir ihnen in der konkreten Situation, welches Fach wofür ist: wo sie ihre Jacke aufhängen können, wo die Straßenschuhe oder Stiefel hingehören, u.s.w.. Wir machen grundsätzlich keine Belehrungen, die sich nicht auf konkrete Situationen beziehen! Wir verfolgen dann wie sie damit weiter agieren – wieweit die Information angekommen ist und wie weit sie das dann auch umsetzen, ob und wie sie es verstanden haben. Dass sie wissen und verstehen, heißt jedoch nicht zwangsläufig, dass sie es auch tun werden. Um es im Tun auch wirklich umsetzen zu können, ist es eine unserer wesentlichen Aufgaben, sie, entsprechend dem, was sie zeigen, immer wieder dabei zu begleiten. Dabei geht es uns nicht darum, zu kontrollieren, ob sie unsere Erwartungen einhalten, sondern darum, dass sie es für sich übernehmen und annehmen können.

Dabei lernen die Kinder sich zu organisieren, ihre Sachen in Ordnung zu halten und sich um ihre Belange zu kümmern. Es gibt z.B. Abläufe, die einer Reihenfolge bedürfen. Wir sprechen dann die Kinder in einer Weise an, die sie selber nachdenken lässt, was wann sinnvoll ist, z.B. dass es einfacher ist, erst die Schuhe zuzumachen und erst dann die Handschuhe anzuziehen und nicht umgekehrt.

Durch das selbständige Ankleiden erwerben die Kinder allerdings auch eine große Freiheit, dass sie nicht mehr auf jemanden angewiesen sind, der z.B. die Knöpfe von der Jacke schließt. So können sie unabhängig bestimmen, wann sie raus- oder reingehen.

Der andere wichtige wiederkehrende Aspekt ist die Brotzeit. Die Kinder bringen ihre Brotzeit in Dosen in ihrem Rucksack mit, der in ihrem Garderobenfach hängt. Wann immer sie Brotzeit machen wollen, egal ob sie Hunger haben oder mit Freunden beim Essen gesellig zusammen sein wollen, holen sie ihre Rucksäcke, gehen damit in die Küche, hängen ihre Rucksäcke an einem dafür vorgesehenen Platz auf und packen ihre Brotzeitdosen aus: suchen sich einen Platz am Tisch, manchmal unter Diskussionen, wer neben wem sitzt. Sie haben eigene Teller und Tassen im Kindergarten, die sie dafür aus dem Regal holen. Das, was sie aus ihren Brotzeitdosen essen wollen, legen sie auf ihre Teller und packen die Dosen wieder in ihren Rucksack. Nach dem Essen waschen und trocknen sie ihre Teller ab und stellen sie in das Regal zurück. Dann nehmen sie ihre Rucksäcke und hängen sie wieder in die Garderobe.

Was die Kinder zum Essen mitbringen, haben die Eltern im Idealfall mit ihnen abgesprochen, was nicht immer der Fall ist. Von uns aus stellen wir immer Butter und verschiedene Küchengeräte zur Verfügung, damit die Kinder die Möglichkeit haben, ihre Brotzeit selber herzurichten. Die Eltern regen wir an, den Kindern Brote z.B. nicht fertig zubereitet mitzugeben und auch Obst und Gemüse nicht schon geschält und geschnitten. Unter anderem gibt es im Kindergarten die Möglichkeit, das eigene Brot zu toasten. Dazu darf es allerdings noch nicht bestrichen sein.

Zum Ende der „Kindergartenkernzeit“ können sich die Kinder für den Nachmittag verabreden. Dazu telefonieren sie mit ihren Eltern, um gleich vom Kindergarten aus mit zu ihren jeweiligen Freunden zu gehen. Ursprünglich hatte das vor allem logistische Gründe, da die Kinder zum Teil aus unterschiedlichen Richtungen und größeren Entfernungen kommen. Daraus ist im Laufe der Jahre eine feste Einrichtung geworden: die „Anrufzeit“.

Es ist meist so, dass die Kinder während des Vormittags beschließen, dass sie sich für den Nachmittag verabreden wollen. Damit sie das festhalten können, gibt es eine Anrufliste, die neben dem Telefon hängt, auf der die Namen aufgeschrieben werden. Entweder schreiben die Kinder ihren Namen selber auf, oder wir oder andere Kinder übernehmen das für die Kinder, die das noch nicht selber tun können oder wollen. Bisher war es immer so, dass die Kinder über kurz oder lang ihren Namen selber aufschreiben wollen. Wir zeigen ihnen dann, dass sie die jeweiligen Buchstaben von ihren Fotokarten kopieren können. Das ist am Anfang eher ein Abmalen, das dann zunehmend zum Schreiben wird.

Da sich die Verabredungswünsche im Laufe eines Kindergartentages durchaus wieder ändern können, findet die Anrufzeit am Ende der Kernzeit statt. Gegen 12.30 Uhr geht einer der Pädagogen mit der Anrufliste herum und informiert die Kinder, dass sie nun telefonieren können. Das läutet gleichzeitig auch den Vormittag aus und gibt das Zeichen, dass alles nun wieder an seinen Platz geräumt wird. Jetzt können auch noch letzte Verabredungen getroffen werden.

Häufig gibt es so mittags eine längere Reihe von Kindern, die ansteht, um zu telefonieren. Wir rufen grundsätzlich erst dort an, wo die Kinder hinwollen. Je nach Kind geben wir in dieser Situation die nötige Hilfestellung: die einen Kinder haben schon so oft angerufen, dass sie ihre Telefonnummer bereits auswendig wählen können. Anderen sagen wir ihre Telefonnummer an, so sie die Zahlen den Ziffern zuordnen können. Wieder anderen zeigen wir die Ziffern bei gleichzeitiger Benennung der Zahl. Und selbstverständlich wählen wir auch für die Kinder, die das noch nicht selber können oder wollen. Das Gespräch führen die Kinder in aller Regel selbst und verhandeln mit ihren Eltern über die Möglichkeiten. Immer ist das Telefon dabei laut gestellt, so dass der betreuende Pädagoge mithören und gegebenenfalls vermitteln kann - sei es durch ergänzende notwendige Informationen, oder auch zum Trösten, wenn die Verabredung an diesem Tag nicht möglich ist. Im Zweifelsfall übernehmen wir aber auch das Sprechen für die Kinder. Wichtig ist uns, dass die Kinder am Prozess für sie weitestgehend beteiligt sind.

Sind die Eltern zur Anrufzeit regelmäßig nicht erreichbar, überlegen wir zusammen mit den Kindern, wie sie sich trotzdem verabreden könnten. Das hat u.a. dazu geführt, dass sich einige Kinder Anhänger für ihren Rucksack aussägen, die sie in der Früh nach Absprache mit ihren Eltern daran hängen, und die codieren, ob an diesem Tag eine Verabredung überhaupt möglich ist, ob sie jemanden besuchen können oder ob sie jemanden mit nach Hause bringen können.

Bei all diesen konkreten Schritten erleben die Kinder, dass sie einen Einfluss auf das Geschehen haben und es mitgestalten können. Durch das Aussprechen unserer Überlegungen und Gedanken erfahren die Kinder im Gespräch von den verschiedenen Lösungsmöglichkeiten und bringen schließlich auch eigene Gedanken ein. So erfahren sie von den verschiedenen Aspekten, die jeweils zu bedenken sind, und wie Lösungen angestrebt werden können.

Diese Kultur von „lautem Nachdenken“ ist ein wesentlicher Teil unseres Zusammenseins mit den Kindern, und hilft ihnen, Zusammenhänge zu erschließen und zu verstehen.

Am Ende der Kindergartenkernzeit gibt es einen genauen Zeitpunkt, an dem die einen Kinder abgeholt werden und andere zum Schulbus gehen, um nach Hause zu fahren. Dazu müssen alle Kinder fertig sein: also angezogen und die Taschen gepackt. Dabei sind natürlich manche früher fertig als andere. Jeder, der bereit zum Heimgehen ist, findet sich dann beim Pavillon zur Geschichtenzeit ein. Mit der Geschichtenzeit überbrücken wir auch die Wartezeit zum Abholen.

Bei der Geschichtenzeit werden sowohl Geschichten erzählt als auch Lieder gesungen oder Spiele gespielt, was gerade passt. Wir greifen immer Themen der Kinder auf, wenn es sich anbietet. Das können Fragen von ihnen ebenso sein wie ein vorüberfliegender Hubschrauber. So ist der Verlauf kaum je absehbar. Die Pädagogen gehen mit dem, was die Kinder einbringen oder worauf sie reagieren. Das bietet Gelegenheit für echten Kontakt.1

1 Das vollständige Konzept liegt im Kindergarten aus und kann dort eingesehen werden.

Kindergarten Niederseeon

Foto: Karsten Czimmek, 2006